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Potsdam
Potsdam besetzt!
Hausbesetzungen in Potsdam in den 1990er Jahren
2018 prangte am Zaun der zum Abriss freigegeben Potsdamer Fachhochschule die Freiluftausstellung „1000 Jahre und ein Viertel Jahrhundert“. Dort waren Stationen der Potsdamer Stadtgeschichte abgebildet und auch die Hausbesetzungen der 1990er Jahre fanden dort Erwähnung. Allerdings recht einseitig auf eine gewalttätige Auseinandersetzung mit der Polizei im Jahr 1993 reduziert, als wäre diese Ausnahmesituation und überhaupt die Eskalation das zentrale Merkmal von Hausbesetzungen. Jetzt ließe sich sagen, dass ist nicht anders zu erwarten - die Haltung, die besetzten Häuser vor allem als Problem wahrzunehmen, hat sich hier und da in den Köpfen bestimmt konserviert. Aber in gewisser Weise korrespondiert so eine Verkürzung auch mit rückblickenden Szenenarrativen wie beispielsweise mit Musik unterlegte Videozusammenschnitte aus alten Nachrichtensendungen, die ebenfalls der Ebene des Kampfes um die Häuser besonders viel Raum geben. [i]Natürlich sind die Hausbesetzungen auch eine bewegte Geschichte von sozialen Spannungen, Kämpfen und Auseinandersetzungen um die Stadt und um Räume für alternative Lebensentwürfe mit den ein oder anderen militanten Spitzen hier und da. Der Alltag der Besetzer*innen im postsozialistischen Potsdam war jedoch deutlich facettenreicher und vielschichtiger und die Szene viel heterogener als einige sensationelle Schlaglichter auf die Vergangenheit vielleicht vermitteln. Vor allem bedarf es auch einer historischen Kontextualisierung, um die Handlungsmöglichkeiten der damaligen Akteure überhaupt zu verstehen. Und: es sollte auch das (scheinbar) Unspektakuläre, Widersprüchliche und Unrühmliche benannt werden, um nicht bei allzu einfachen Konstrukten hängen zu bleiben. Die Geschichte der Besetzungen in Potsdam beginnt schon vor dem Mauerfall, nämlich in der Praxis des „Schwarzwohnens“, in einer damit verbundenen Alternativszene und in Teilen des Potsdamer Oppositionsmilieus. Ich möchte hier, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, die wichtigsten Entwicklungen dieser Geschichte ab Mitte der 1980er bis Anfang der 2000er Jahre skizzieren.
„Schwarzwohnen“ und Alternativszene im Holländischen Viertel der 1980er Jahre
Eines der dringlichen Probleme in den 40 Jahren DDR war die ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum. Seit den 70ern versuchte der Staat im Rahmen eines großen Planes durch Neubau die „Wohnungsfrage“ zu lösen, doch gleichzeitig verfielen Altbaugebiete, das Problem wurde zwar gemildert, jedoch nicht gelöst. Gerade junge Menschen hatten es unter den Bedingungen einer staatlichen Wohnraumlenkung schwer, eine der nur knapp vorhandenen Wohnungen zu bekommen. Trotz einer hohen Zahl an Wohnungssuchenden gab es einen hohen Leerstand an nicht vermietbaren Wohnungen in den stark vernachlässigen Altbaugebieten. Daher zogen einige von ihnen ohne Genehmigung der entsprechenden Behörden in die zahlreichen baufälligen und leeren Wohnungen ein - „Schwarzwohnen“ nannte sich diese Alltagspraxis[ii] und war nicht zwingend an subkulturelle Szenen gekoppelt oder durch Transparente oder bunte Fassaden von außen erkennbar. Prominentes Beispiel: Auch Angela Merkel hatte in ihren jungen Jahren keine Scheu nach ihrer Scheidung kurzum eine Wohnung zu besetzen.[iii] Doch in einigen Städten verdichteten sich “Schwarzwohnungen” zu kleinen lokalen Szenen und auch im „Holländischen Viertel“ in Potsdam - einem Gebiet mit damals hoher Leerstandsrate - konzentrierten sich ab Mitte der 1980er die besetzten Wohnungen. Auch dort bildete sich eine Alternativszene heraus, zu der etwa Künstler*innen, Punks und jene, die man allgemein zu den Alternativen und/oder Aussteiger:innen zählen würde. So bildete sich ein Zusammenhang von Menschen heraus, die nicht nur ein Dach über dem Kopf suchten, sondern sich den Kontroll- und Lenkungsansprüchen des SED-Systems zu entziehen versuchten und Möglichkeiten eines eigenständigen kulturellen Lebens auslotete. So nutzten sie die okkupierten Räume etwa für illegale Ausstellungen, Ateliers, Fotolabore, Super-Acht-Filmkunst, Bandproberäume und Siebdruckwerkstätten. Dieser “Underground” war aber nicht abgeschottet, sondern bewegte sich zwischen einer privaten und halböffentlichen Sphäre. Explizit politisch waren diese Aktivitäten nicht motiviert und mit den spektakulären Hausbesetzungen, wie sie in Westdeutschland zu finden waren, hatten diese Besetzungen nur wenig gemeinsam. Sie waren eher still und fanden in den offiziellen Medien der DDR keine Aufmerksamkeit, dafür aber durch die Staatssicherheit. Diese beobachtete die Szene argwöhnisch und bemerkte 1988 in einem internen Bericht:
„daß sich das ‚Holländer Viertel‘ zunehmend zu einem Sammelbecken/Konzentrationspunkt vorrangig negativ-dekadenter Personen entwickelt hat. Die Mehrzahl dieser Personen ist ohne Arbeitsrechtsverhältnis und mißachtet bewußt die Normen des gesellschaftlichen Lebens (u. a. illegales Wohnen). Aufgrund bestehender Verbindungen/Kontakte und zum Teil eigener Aktivitäten in der Vergangenheit (z. B. Teilnehmer an der ‚Schmiede‘, der Gruppe ‚Kontakte‘) stellen diese Personenzusammenschlüsse ein Reservoir für feindlich-negative Kräfte dar.“ [iv]
Die inoffiziellen Veranstaltungen wurden zwar nicht polizeilich verhindert, aber geheimdienstlich observiert. Vom 28.2. bis 6.3.1987 fand in der Mittelstraße 18 die Ausstellung „Foto-Musik-WeinAktion“ statt. Aus einem Bericht der Stasi wird klar, wie solche Zusammenkünfte organisiert wurden, welche Anziehungskraft die Ausstellung hatte und vor allem wie “Sicherheitsorgane” dies deuteten: „Die Besucherwerbung erfolgte durch gezielte Mund zu Mund Propaganda unter Jugendlichen und pseudointellektuellen Jungerwachsenen, Gratisverteilungen von gestalteten Eintrittskarten und Anbringen eines Plakates an der Wohnungstür/Hoftür. Die Ausstellung wurde täglich von über 100 Personen besucht, u. a. auch von 2 Bürgerinnen aus WB. Abzüge der ausgestellten Fotos wurden zum Verkauf angeboten.“ Diese „illegale Fotoausstellung“ mit etwa 70 Fotos war zwar inhaltlich strafrechtlich nicht relevant, die Ausstellungsstücke enthielten in den Augen der Stasi jedoch teilweise eine „politisch-indifferente Aussage“.
Die Potsdamer Antifa-Bewegung
In den 70er und 80er Jahren gab es in der DDR Oppositionsgruppen, die unter dem Dach der Kirche sich kritisch mit den Verhältnissen im real existierenden Sozialismus auseinander setzten. Dazu gehörte auch die ostdeutsche Antifa-Bewegung: Wegen der zunehmenden Bedrohung durch Neonazis gründete sich 1987 auch in Potsdam aus der lokalen Punkszene heraus eine alternative Antifa-Gruppe, die durch öffentlichkeitswirksame Aktionen, etwa durch heimliches Kleben von Plakaten eine öffentliche Diskussion über das staatlicherseits verleugnete Neonaziproblem in der DDR anstoßen wollte.[v] Die Motivation für den Beginn ihrer Arbeit beschreibt die Gruppe in einer Selbstdarstellung: „Das immer stärkere Auftreten von Neonazis, Nationalisten und anderer rechtsextremer Gruppierungen hat uns, einige Potsdamer Jugendliche stark beunruhigt und beängstigt. Der eigentliche Anlass für unsere Gruppenarbeit war die Wut und die Angst, die sich nach dem Überfall auf die Zionskirche bei uns breitmachte. Dazu kam noch, daß sich ca. 60 Skinheads in Potsdam ansagten, um die Stadt, wie es in ihrem Jargon heißt, zu erobern.“
Allerdings blieb der Versuch, die Öffentlichkeit für das Naziproblem zu sensiblisieren, weitgehend erfolglos, denn laut offizieller Ideologie durfte es Nazis in der DDR gar nicht geben, auch wenn die Sicherheitsorgane intern durchaus Kenntnis von der unübersehbaren braunen Gefahr im Arbeiter- und Bauernstaat hatten. Die Stasi bekämpfte deshalb die Antifa-Gruppe als staatsfeindlich und unterband ihr öffentliches Auftreten. Trotzdem blieben die Antifa und ihr Netzwerk bestehen und war auch im Herbst 1989 aktiv, als am 7. Oktober 1989 etwa 2000 Potsdamer Bürger:innen gegen die Zustände in der DDR auf die Straße gingen. Ging an diesem Tag der Staat noch mit gewohnter Härte gegen die alternative Jugend vor, wendete sich das Blatt in den folgenden Tagen und Wochen grundlegend. Am 9. November 1989 organisierte die Potsdamer Antifa anlässlich des Jahrestags der Reichspogromnacht die erste Demonstration durch die Potsdamer Innenstadt, auf der sie unter anderem auch Reformen forderten. Abends entfuhren Günter Schabowski auf einer Pressekonferenz die berühmten Worte “sofort, unverzüglich”, die nicht zuletzt die Öffnung der Grenzen und den Fall der Mauer bedeuteten.
Entstehung der Hausbesetzungen 1989/90
Nur kurz nach dem Mauerfall kam es zu den ersten Hausbesetzungen in Potsdam, die nun offensiv, demonstrativ und in der öffentlichen Sphäre wahrnehmbar neue kulturelle Freiräume erschlossen. Dabei zeigten sich die Kontinuitäten zum „Schwarzwohnen“, in die ostdeutsche alternative Szene und die Opposition - also zu jenen Akteuren, die den bis zum Mauerfall blockierten sozialen Milieus der DDR zuzurechnen sind. Es ist offensichtlich: Hausbesetzungen waren für die Entfaltungs- und Autonomisierungsprozesse dieser Gruppen die räumliche Voraussetzung. Sie profitierten dabei von einer spezifischen historischen Situation, in der alte Herrschaftsstrukturen sich aufgelöst hatten und neue noch nicht vollständig etabliert waren. Die Hausbesetzer:innen reagierten auf den Widerspruch zwischen massenhaftem Leerstand auf der einen und einer drastischen Wohnungsnot auf der anderen Seite. Die Potsdamer Antifa-Gruppe zum Beispiel initiierte im Dezember 1989 die erste öffentliche Besetzung und verkündete auf einem Flugblatt:
„Seit Jahren stehen in unserer Stadt Häuser und Wohnungen leer. Sie sind dem Verfall und der Zerstörung preisgegeben. (…) Immer wieder trifft es die Jugend. Aber auch anderen Potsdamer Bürger/innen geht so wertvoller, dringend benötigter Wohnraum verloren. (…) Weiterhin sind wir der Meinung, daß es an der Zeit ist, in Potsdam ein unabhängiges Jugendzentrum einzurichten.“
Einige der Besetzer:innen der Dortustraße 65 gaben ab Januar 1990 die alternative Zeitung namens Winkelement heraus und waren damit Teil einer republikweit florierenden unabhängigen Presse. Jugendliche aus dem Umfeld der Jungen Gemeinde besetzten gleichzeitig ein Haus im Holländischen Viertel als Wohnprojekt. Einige Künstler:innen, die in den 1980er Jahren in besetzten Wohnungen im Holländischen Viertel die Alternativkultur organisierten, besetzten ebenfalls 1990 ganze Gebäude für Kultur- und Kunstzentren. Beispiele sind die heute noch existierende Fabrik in oder das von Filmschaffenden besetzte Haus in der Einsteinstraße. Dort, wo heute das KuZe existiert, riefen im Herbst 1989 Künstler:innen die Kunstfabrik aus.
Blieben die Potsdamer Besetzer:innen 1990 von den staatlichen Institutionen noch unbehelligt, waren sie dagegen den Angriffen militanter Neonazigruppen ausgesetzt. Diese gingen massiv gegen die Hausbesetzer:innen in der Innenstadt vor. Eine neue Situation, die den Alltag der Besetzer:innen prägte und sich durch vergitterte Fenster und verrammelte Türen auch in das äußere Erscheinungsbild der Häuser einschrieb. Ein Besetzer schildert im Rückblick auf diesen Zustand den Widerspruch, dass der okkupierte „Freiraum“ in der Aneignung sofort in einen „Käfig“ umgebaut wurde, um die eigene Unversehrtheit zu garantieren. Auf die garantierte Hilfe der Volkspolizei konnten sich die Besetzer:innen dabei nicht verlassen, daher verstärkten sie ihren Selbstschutz. Die Hausbesetzer:innen gingen und fuhren regelmäßig Streife, um mögliche Gruppen, die das Haus angreifen könnten, rechtzeitig zu identifizieren. Einige Häuser waren mit CB-Funk untereinander verbunden, um einander bei Angriffen gegenseitig zu Hilfe zu rufen. Während sich die Hausbesetzer:innen in der Innenstadt noch gegen die Neonazis behaupten konnten und die Häufigkeit von Überfällen insgesamt deutlich abnahm, dominierte und gedieh in den 1990er Jahren besonders in den Neubaugebieten weiterhin eine subkulturelle Neonaziszene. Schon damals gab es in Medien und Politik die Tendenz, diese in ganz Ostdeutschland zunehmende rechte Gewalt zu verharmlosen und solche Überfälle als Konflikte zwischen verfeindeten Jugendgruppen abzutun. Dabei haben wir es mit einer Kontinuität rechter Gewalt zu tun, die bis heute anhält und mehr als 200 Todesopfer seit 1990 gefordert hat.[vi]
1990 als „Jahr der Anarchie“ war eine historische Ausnahmesituation und das Ende war schon in den ersten Monaten des Jahres absehbar. Die Stimmen, die eine reformierte DDR wollten, wurden bald von jenen übertönt, die eine rasche Einheit beider deutscher Staaten forderten. Die Volkskammerwahlen vom 18.3.1990 entschieden den Anschluss der DDR an die BRD und das Aufgehen des Ostens im Kapitalismus. Nicht zuletzt Bundeskanzler Helmut Kohls vollmundiges Versprechen von „blühenden Landschaften“ hat zu diesem Ergebnis beigetragen. Was aber folgte, war die massenhafte Abwicklung von Betrieben durch die Treuhand und plötzliche Arbeitslosigkeit für Millionen - von der angekündigten Prosperität war auch Jahre später weit und breit nichts zu sehen. Auch auf das Wohnen wirkte sich die neuen Verhältnisse aus: Die zu DDR-Zeiten noch günstigen Mieten verfünffachten sich, so dass in den ersten Jahren nach der Einheit fast Dreiviertel der Ostdeutschen ihre Miete nicht mehr zahlen konnten und Anspruch auf Wohngeld hatten. Das ehemalige Volkseigentum Wohnung verwandelte sich zurück in die Warenform. Häuser standen weiter leer und waren nicht selten auch Spekulationsobjekte dem weiteren Verfall preisgegeben, während die Wohnungssuchenden Schlange standen. Dass statt Aufschwung soziale Verwerfungen vorzufinden waren, blieb nicht unwidersprochen. Eindrücklich zeigte sich der Stimmungswandel etwa 1991 in Erfurt, als Helmut Kohl bei einem Besuch mit Eierwürfen statt wie noch im Jahr zuvor mit Jubel aus der Menge empfangen wurde. Zwischen 1990 und 1994 demonstrierten insgesamt drei Millionen Menschen gegen die Entlassungen und Ungleichbehandlungen.
Potsdam als Hochburg für Besetzungen
1991 wuchs die Zahl der besetzten Häuser in Potsdam rapide, so dass hier zeitweise etwa 30 Häuser gleichzeitig besetzt waren. Damalige Akteure entdeckten in Potsdam sogar eine führende Rolle der Landeshauptstadt, weil nirgendwo sonst in dieser Zeit in der Bundesrepublik im Verhältnis zur Einwohnerzahl so viele Häuser besetzt waren, aber eine wirklich herausragende Rolle spielte die Potsdamer Szene im Vergleich zu anderen Szenen in ostdeutschen Städten mit besetzten Häusern allerdings nicht. Ein wichtiger Grund für diesen Zuwachs 1991 war der Niedergang der Hausbesetzer:innenbewegung in Ostberlin. Denn seit November 1990, nach der gewaltvollen Räumung der Mainzer Straße, verfolgte der Berliner Senat eine deutliche härtere Politik gegenüber Hausbesetzungen. Einige ehemalige Besetzer:innen aus Berlin besetzten daher ab Januar 1991 Häuser in Potsdam, weil hier die Lage für Besetzungen noch etwas aussichtsreicher schien. Die aus Westdeutschland und Berlin Zugezogenen brachten einige Praxen nach Potsdam, die in westdeutschen Städten schon deutlich länger zu den Infrastrukturen von alternativen Milieus und Hausbesetzungsszenen gehörten, wie etwa „Voküs“, und sie eröffneten neue Kneipen. Während sich die ostdeutschen Besetzer:innen an den westdeutschen orientierten, grenzten sie sich andererseits auch von ihnen ab. Einige beklagten sogar eine mit dem Zuzug einhergehende Dominanz Westdeutscher. So monierte ein Potsdamer Ex-Besetzer im Mai 1991 in einem Beitrag der taz, dass seit dem Zuzug der Berliner nur Unruhe in der Gutenbergstraße herrschen würde und beklagte Vandalismus und Ruhestörung. Das rege Leben der Besetzer:innen in der Innenstadt kollidierte tatsächlich in der Innenstadt mit den Lebensvorstellungen der Anwohner:innen und Gewerbetreibenden und bildete den Nährboden für Konflikte. Im September 1992 veröffentlichte die AG City, ein Interessenverband von Potsdamer Gewerbetreibenden, unter der Überschrift „Keine Hausbesetzer in der Innenstadt“ einen Appell in der Zeitung, in dem sie Gewerbetreibende durch die Hausbesetzer:innen bedroht sahen: „Die Gewerbetreibenden haben nichts gegen ‚alternatives Leben‘, sie haben nichts gegen bunte Kleidung und andere unkonventionelle Äußerlichkeiten. Sie meinen aber, daß dies nach den Erfahrungen der letzten Jahre und insbesondere der letzten Zeit nichts in der Innenstadt zu suchen hat.“ Andere besetzte Häuser konnten dagegen ein gutes Verhältnis zu ihren Nachbar:innen aufbauen.
Die Potsdamer Hausbesetzer:innen schufen ihren losen Zusammenhalt durch Infrastrukturen wie Kneipen, Läden und politische wie kulturelle Zentren und durch Zusammenkünfte wie etwa Partys und gemeinsame Arbeitseinsätze an Häusern und bei Protestereignissen. Eine zentrale Steuerung der Hausbesetzungen hat es allerdings nie gegeben. Eine Organisierung stellte allerdings das Potsdamer „Häuserplenum“ dar, eine unregelmäßige Versammlung, an der besetzte Häuser der Stadt teilnahmen. Dies war eine vor allem solidarische Organisierungsform, die unter anderem in Zeiten des Protests gemeinsame Handlungsstrategien aushandelte. Trotz aller Vielfältigkeit der einzelnen Projekte, die der Szene zuzurechnen sind: Das Motiv des gemeinschaftlichen alternativen Lebens war sehr zentral für die Potsdamer Hausbesetzer:innen. Oft waren die nach Autonomie strebenden Projekte konsumkritisch ausgerichtet und wandten sich betont gegen Kommerzialisierung und kapitalistische Verwertungslogik ebenso wie gegen (vermeintlich) bürgerliche Wohn- und Lebensvorstellungen. In einigen Stellungnahmen von besetzten Projekten wurde die Idee des Kollektiven regelrecht überhöht, was mitunter mit bis zur “Selbstghettoisierung” reichenden Abschottung und strikter Grenzziehung zur “Restgesellschaft” einherging. Andere Akteur:innen der Szene stellten diese Selbstausgrenzung allerdings infrage, weil die Gleichzeitigkeit von Ausgrenzung und dem Versuch, Verständnis für alternative Lebensformen in der Gesellschaft zu erhalten, als Widerspruch wahrgenommen wurde. So äußerten sich an verschiedenen Stellen Zweifel, ob die alternative Szene „so anders“ als der Rest der Gesellschaft sei. Manche Projekte waren von relativ hoher Fluktuation geprägt und unter “Freiraum” verstand offensichtlich nicht jede/r das gleiche. Der Drang nach Selbstverwirklichung und das Leben in der Gemeinschaft harmonierten nicht immer, formell festgelegte libertäre Regeln des Zusammenlebens waren das eine, tatsächlich vorhandene Herrschaftsverhältnisse in den Projekten das andere. Ob nun das „richtige Leben im Falschen“ in den alternativen Wohnprojekten gelang oder scheiterte kann nicht pauschal beurteilt werden. Dazu sind die einzelnen Erfahrungen und die Ansprüche an den eigenen Lebensentwürfen viel zu unterschiedlich. Der sozialromantisch verklärte Blick zurück in die wild-bunte Zeit der 1990er Jahre scheint aber ebenso unangebracht wie der Verweis auf linke Naivität und Utopien, die ohnehin in der vorherrschenden Gesellschaftsform nicht realisierbar seien.
Insgesamt galten 70 Häuser in Potsdam in der 1990er Jahren besetzt.[vii] Der Großteil diente dem gemeinschaftlichen Wohnen, der geringere Teil bot mit Kneipen und kulturellen Zentren öffentliche Orte der Vergemeinschaftung. Hier äußerten sich die Praktiken musikorientierter jugendkultureller Szenen wie beispielsweise Punk, Hardcore, Gothikszene, Hip Hop und Techno, die in den 90ern eben so “en vogue” waren. Wie schon angedeutet, überschnitten sich die Hausbesetzungen mit anderen sozialen Bewegungen und politischen Szenen. Zu nennen sind beispielsweise Antifa-Gruppen, aber auch die Kampagne gegen Wehrpflicht, Anti-Atom-Bewegung, diverse autonome Gruppen und Zusammenhänge. Fußballaffine Hausbesetzer:innen aus Potsdam spielten eine interessante Rolle in der Geschichte des Potsdamer Fußballvereins Babelsberg 03. In den frühen 1990er Jahren begannen Hausbesetzer:innen, regelmäßig die Spiele des noch wenig bekannten Vereins zu besuchen und trugen damit auch ein antifaschistisches und antirassistisches Selbstverständnis zu einer Zeit in das Stadion, als Fankultur entweder unpolitisch oder rechts geprägt war.
Die jugendlich geprägte Potsdamer Hausbesetzer:innenszene war in den 1990er Jahren männlich dominiert. Wie dieses Herrschaftsverhältnis, aus heutiger Sicht würde der Begriff toxische Männlichkeit durchaus passen, von Frauen in der Szene wahrgenommen wurde, zeigt die Stellungnahme eines feministischen Projekts aus dem Jahr 1995: „Wir haben jedoch die Erfahrung gesammelt, daß in Potsdams besetzten Häusern und Scene-Treffs Hierarchien bestehen, die von Männern bestimmt und gehalten werden. Frauen sind in den meisten Treffs ohnehin in der Minderzahl und es werden eher weniger als mehr, was mit Sicherheit seine Gründe hat. (…) Die Auseinandersetzung mit sexistischen Sprüchen und sexueller Gewalt in der Szene scheint für viele ‚Linke‘ kein Thema zu sein. Frauen, die dagegen aktiv werden, werden belächelt, ignoriert oder als Hardcore-Emanzen oder ähnliches bezeichnet.“
Niedergang zwischen Räumungen und Legalisierungen
Im Laufe des Jahres 1991 endete die Phase, in der die Ausbreitung von Hausbesetzungen durch die von der Übergangssituation handlungsgeschwächte Stadtregierung geduldet wurde. Ab 1991 griffen die Potsdamer Behörden härter durch, was schließlich auch zu Politisierungs- und Radikalisierungsschüben unter den Hausbesetzer_innen führte. Ein tragfähiges Lösungskonzept legte die Stadtverwaltung zunächst allerdings nicht vor, stattdessen stießen Ansprüche der Besetzer:innen auf Legalisierung auf ablehnende Positionen in der Rathausspitze.
Die angespannte Situation eskalierte im Herbst 1993, als Hausbesetzer:innen die Räumung des Kulturzentrums „Fabrik“ zu verhindern versuchten, bei der die Polizei mit äußerster Härte vorging und mit Steinwürfen der Besetzer:innen vom Dach und weiteren Polizeiübergriffen begleitet wurde und schließlich mit dem Brand des Hauses endete. Der damalige Polizeipräsident Detlev von Schwerin ließ zu diesem Anlass ein Kommentar vom Stapel, dass an seinem objektiven Urteilsvermögen stark zweifeln ließ. So stellte er Bezüge zu den Luftangriffen auf Potsdam durch die Alliierten her, bei denen große Teile der Potsdamer Innenstadt zerstört worden waren: „Was die Bomber der Royal Air Force 1945 nicht schafften, wird jetzt von einigen Mitbürgern offensichtlich nachgeholt.“ In der PNN erschien zwei Tage nach der Räumung eine Anzeige, in der sich die Enttäuschung über die Räumung ausdrückte: „Es hätte: weder den Hass, die Wut, und die Verbitterung geben brauchen! Daß sich der Magistrat dennoch für eine Eskalation der Gewalt entschieden hat und die Gutenbergstraße in brutalster Art und Weise, ist für uns zutiefst unverständlich Auf diese unverhältnismäßige und unfaire Art darf man mit Menschen nicht umgehen. Wir verurteilen ganz entschieden den vom Magistrat in Kauf genommenen Gewaltakt, der das bislang relativ friedliche Klima in der Stadt grundlegend zugunsten von Mißtrauen, Wut und Kampf verändert hat.“
Auf die Räumung der Fabrik folgte die Neubesetzung der Villa in der Hegelallee 5 als neues autonomes Kulturzentrum, darauf wieder Räumung und eine erneute Phase von Protesten. Die Phase Herbst/ Frühjahr 1993/94 stellt hinsichtlich der Proteste den Höhepunkt der Potsdamer Hausbesetzungen dar. Den Hausbesetzer:innen ging es um das „Recht auf Stadt“ für alternative Kultur- und Lebensformen und deren Anerkennung. Das ging einher mit einer Kritik an innerstädtischen Aufwertungs- und Verdrängungsprozessen. Vertreter:innen von Kirche und Jugendverbänden, linke Stadtverordnete solidarisierten sich mit den Hausbesetzer:innen. Eine Bürgerinitiative gegen Kriminalisierung von Jugendlichen gründete sich 1994 und wandte sich gegen Polizeigewalt und gegen militante Strategien aus der Szene. So erhöhte sich der Druck auf die Kommunalpolitik, sich den Hausbesetzungen auf eine allgemein verträgliche Weise zu stellen und Ausweichobjekte für geräumte Häuser zu schaffen. Die meisten besetzten Häuser wurden allerdings bis 2000 geräumt, nur ein kleiner Teil konnte legalisiert werden, einige Häuser bekamen Ersatzimmobilien. Diese Legalisierungsformen waren auch an die Bereitschaft gekoppelt, sich auf langfristige Baumaßnahmen und Vereinsstrukturen einzulassen.
Die Einstellungen aus der Kommunal- und Landespolitik zu den Hausbesetzer:innen unterschied sich danach, wie mit ihnen umzugehen sei. In der parteipolitischen Diskussion finden sich gängige Interpretationsmuster und Lösungsideen, die sich nach den politischen Lagern differenzierten. Die konservativen politischen Kräfte spielten meist die gewalttätigen Proteste der Hausbesetzer:innen hoch, verengten sich oft undifferenziert auf negative Aspekte und verknüpften dies mit dem Thema der inneren Sicherheit. Im Gegensatz dazu vertraten die weitestgehend linken Lager eine differenziertere Sichtweise und bezogen die Ursachen auf gesellschaftliche Problemlagen. Wie weit die Dramatisierungen der Hausbesetzungen gehen konnten, zeigt die Stellungnahme des CDU-Politikers Wieland Niekisch, der allen Ernstes ein paar zerstörte Fensterscheiben nach der Bouman´s-Räumung im Jahr 2000 mit der Reichspogromnacht von 1938 verglich.
Natürlich stellt sich die Frage, was von den Hausbesetzungen der 1990er Jahren bleibt. Ohne an dieser Stelle bewerten zu wollen, ob es sich im gesamten um eine Erfolgsstory handelt oder nicht, kann festgehalten werden:
Die Potsdamer Hausbesetzer:innen und ihre Unterstützer:innen konnten in Teilerfolgen ihre Ansprüche auf alternative Kultur- und Wohnformen durchsetzen und bilden heute, allerdings exklusive, Inseln vergleichsweise kostengünstiger Wohnmöglichkeiten. Ein Teil der aus Besetzungen hervorgegangenen Projekte professionalisierte sich und gehört heute zu wichtigen kulturellen Einrichtungen der Stadt. In den legalen Räumen konnten sich trotz folgender Existenzsorgen langfristige Projekte wie Konzert- und Kneipenbetriebe, linke Buchläden und Werkstätten behaupten. Das Alternativmilieu um die besetzten Häuser der 1990er Jahre hatte in der Stadt unzweifelhaft eine gewisse Gestaltungskraft, ohne allerdings am politisch forcierten Aufwertungsprozess etwas ändern zu können.
Dieser Beitrag hat sich vor allem auf einige Aspekte der 1980er und 1990er Jahre konzentriert - die letzten 20 Jahre sind auch schon Geschichte, auch die muss irgendwann erzählt werden. Über die weiterhin dramatische Lage auf dem Potsdamer Wohnungsmarkt und die weiter anhaltende Kommerzialisierung der Stadt muss hier nicht viel referiert werden, sie ist für Viele Alltagsrealität. Unkonventionelle Lösungen von “früher” greifen irgendwie auch nicht mehr: Das langfristige Besetzen von Häusern ist heute genauso schwer wie eine bezahlbare Wohnung in Potsdam zu finden. Hausbesetzungen hat es seit Anfang 2000 zwar immer wieder gegeben, doch nur in seltenen Fällen konnten sich die Besetzungen länger halten, wie etwa die 2008 besetzte Datscha im Park Babelsberg. So sind auch die Besetzungen der letzten Jahre eher symbolisch und die Aktivist:innen können immer sicher sein, dass sofort ein Großaufgebot der Polizei anrückt, um den Leerstand der okkupierten Immobile rechtmäßig wieder herzustellen. Gleichzeitig lässt sich mit dieser Aktions- und Protestform jedoch jede Menge Aufmerksamkeit herstellen und immer wieder auf die Zustände von Wohnungsnot, hohen Mieten und Verdrängung verweisen. so ist davon auszugehen, dass Hausbesetzungen auch in Zukunft eine Option für die aktuellen kritischen Stadtbewegungen sein werden.
[i] https://www.youtube.com/watch?v=VCHsQ6UXMcg
[ii] Zum „Schwarzwohnen: Udo Grashoff, Schwarzwohnen. Die Unterwanderung der staatlichen Wohnraumlenkung in der DDR, Göttingen 2011
[iii] https://www.neues-deutschland.de/artikel/196165.auch-angela-merkel-war-wohnungsbesetzerin.html
[iv] alle folgenden direkten Zitate zitiert nach: Jakob Warnecke. »Wir können auch anders«. Entstehung, Wandel und Niedergang der Hausbesetzungen in Potsdam in den 1980er und 1990er Jahren, Berlin 2019.
[v] zur Antifa in Ostdeutschland allgemein: Jänicke, Christin/Paul-Siewert, Benjamin (Hg.): 30 Jahre Antifa in Ostdeutschland. Perspektiven auf eine eigenständige Bewegung, Münster: Westfälisches Dampfboot 2017.
[vi] https://www.belltower.news/die-liste-193-todesopfer-rechtsextremer-und-rassistischer-gewalt-seit-1990-36796/
[vii] https://maps.squat.net/de/cities/potsdam/squats